Interview mit Uwe Schwichtenberg, stellvertretender ärztlicher Direktor und Chefarzt des Suchtmedizinischen Zentrums im AMEOS Klinikum Osnabrück. Mit freundlicher Genehmigung der Osnabrücker Straßenzeitung abseits (Ausgabe April/ Mai 17, S. 16 und 17). abseits-online.de

 

Herr Schwichtenberg, Sie arbeiten im Bereich der Suchtmedizin. Vielleicht könnten Sie einmal erklären, was dieses medizinische Feld beinhaltet und Ihre Arbeit kurz vorstellen.

Die Suchtmedizin ist ein weites Feld. Ich bin Chefarzt des suchtmedizinischen Zentrums hier am AMEOS Klinikum Osnabrück, und wir haben auf drei Stationen die Möglichkeit, Menschen, die suchtkrank sind, zu entgiften. Hierfür haben wir auch noch eine Tagesklinik und eine Ambulanz. Das Suchtmedizinische Zentrum gibt es seit 1990. Im Jahr haben wir so um die 2500 Patienten. Davon ist ungefähr die Hälfte alkoholkrank; die übrigen 40 Prozent der Patienten konsumieren illegale Drogen und 10 Prozent leiden z.B. unter einer Medikamentenabhängigkeit oder nicht stoffgebundenen Süchten (z.B. Glücksspielsucht).

 

Was leistet aus Ihrer Sicht das suchtmedizinische Zentrum im Bereich der Suchthilfe?

Ich denke schon, dass wir ein wichtiger Punkt im Leben von Suchtkranken sind, wenn sie sich entscheiden, etwas in ihrem Leben verändern zu wollen. Denn am Anfang von einer weiterführenden Therapie steht erstmal eine Entgiftung. D.h. ein Alkoholiker, der nicht mehr weiter trinken möchte, muss zunächst einen Entzug vom Alkohol mitmachen, und den führen wir hier stationär durch. Das gilt natürlich genauso für die Entgiftung von illegalen Drogen, wie z.B. Heroin, Kokain, oder Cannabis. Ebenfalls versuchen wir von hier aus, auch immer schon die weitere Versorgung und Behandlung der Patienten mitzusteuern, d.h. der Übergang in eine ambulante Therapie oder der Besuch einer Suchberatungsstelle. Wir sehen uns daher auch als einen wichtigen Teil eines Netzwerkes.

 

Was sind Ihrer Meinung nach die täglichen Herausforderungen in Ihrer Arbeit?

Die Herausforderungen sind zum einen, die Betroffenen zu motivieren, sich mit ihrer Sucht auseinanderzusetzen, etwas gegen die Sucht zu tun, und nicht einfach wieder rauszugehen und weiter zu konsumieren. Zum anderen auch, dass die Patienten, wie man so schön sagt, „in die Gänge kommen“, etwas für sich tun, sodass der Aufenthalt in unserer Einrichtung nicht nur ein kurzer „Zwischenstopp“ oder eine kurze Pause von dem Konsum ist, sondern etwas Langfristiges.

 

Wo kommen Sie an Ihre Grenzen in Ihrer Arbeit mit Suchtkranken?

Unsere Grenze ist die Einflussnahme, wenn wir hier die Menschen aus unserer Betreuung entlassen. Dann ist es so, dass viele Einflussfaktoren von außen auf die Leute einwirken, die zum Teil nicht günstig sind, z.B. Szeneverhalten: man trifft Leute wieder, die auch gerne trinken und dann ist man natürlich auch ganz schnell wieder dabei, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Und da können wir natürlich den Patienten nicht vorschreiben, mit wem sie sich treffen, wie sie ihren Umgang pflegen oder wie ihren Tag gestalten.

 

Sehen Sie auch die Erfolge Ihrer Arbeit, also dass Süchtige clean werden und dann ein suchtfreies Leben führen? Gibt es überhaupt viele Erfolge?

Ich kann auf jeden Fall in Bezug auf die langfristigen Erfolgsprognosen keine genauen Zahlen nennen. Wir kriegen teilweise immer wieder Rückmeldungen von ehemaligen Patienten, die Jahre lang nicht konsumiert haben. Aber ansonsten kann man wenig exakte Zahlen nennen. Einfach, weil die Leute, die es „geschafft“ haben, eigentlich den Kontakt zu uns meiden – die brauchen uns ja nicht mehr – und insofern bekommen wir wenig bzw. keine Rückmeldung. Die, die wieder rückfällig werden, die sehen wir natürlich wieder.

 

Braucht man für Ihre Arbeit eine hohe Frustrationstoleranz?

Ja, auf jeden Fall. Die braucht man, um in der Suchthilfe zu arbeiten. Man muss die Süchtigen mögen. Bei manchen Patienten sind wir froh, wenn sie es schaffen z.B. 10 Wochen nicht rückfällig zu werden und die Intervalle dann größer werden. Dann kann man das schon durchaus als Erfolg sehen, als Schritt in die richtige Richtung. Wenn man Erfolg allerdings nur dann als solchen definiert, wenn jemand absolut suchtfrei bleibt, dann ist man, glaube ich, in der Suchtarbeit und -hilfe falsch. Das ist so ein Absolutheitsanspruch, den man in der Wirklichkeit nicht erfüllen kann, und wenn man den hat, dann kann man eigentlich nur verzweifeln. Aber man kann durchaus Erfolge sehen, dass Leute gesünder werden, sich wieder einen sozialen Rahmen aufbauen, der verloren gegangen ist. Gerade bei Alkoholbetroffenen z.B., dass sie wieder arbeitsfähig werden und die familiäre Situation sich verbessert. Wenn man sein Augenmerk nur darauf richtet: der trinkt nie wieder in seinem Leben Alkohol, dann hat man keine Chance.

 

Sie sagten vorhin: „Man muss die Süchtigen mögen.“ Ist das etwas, was nicht so einfach ist?

Ja, tatsächlich. Aber wenn die Betroffenen über die erste Intoxikationsphase hinaus sind, wo sie meistens nicht so ganz freundlich sind, gerade die Alkoholkranken, dann lernt man eine Menge interessanter Menschen kennen. Was ist Ihre Erfahrung, warum Süchte entstehen? Sucht hat viele Ursachen. Es ist eine Kombination aus den Dingen, die man genetisch mitbekommen hat, und der Lebenssituation, die man zuhause im Elternhaus, Schule oder der Clique antrifft. Wenn man z.B. in einer Gegend lebt, wo viele Leute trinken, dann wird man wahrscheinlich auch eher zum Alkohol kommen. Wenn man in einem Kiffer-Club ist, dann wird man eher zum Cannabis kommen. Und dann spielen natürlich auch noch bestimmte einschneidende Ereignisse, die man im Leben hat, eine Rolle. Man kann da eigentlich nicht nur eine Ursache finden, sondern ein ganzes Bündel. Kann Ihrer Meinung nach jeder süchtig werden? Ja klar. Viele sagen, das würde mir nicht passieren; diese scheinbare Sicherheit haben viele. Aber genau das sagen auch viele, die Heroin konsumieren: „Ich mache das nur einmal, dann passiert mir das nicht wieder.“ Diese Überzeugung, „dass sie es im Griff haben“ teilen viele Menschen: fragen Sie einen süchtigen Raucher. Der kann doch „jederzeit“ aufhören. Es ist nahezu ein Kennzeichen von Suchterkrankten, dass sie sagen, „ich habe alles im Griff“. Ein wesentlicher Teil unserer Behandlung hier ist, dass wir den Patienten klar machen, dass sie ein Problem mit einem bestimmten Suchmittel haben.

 

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die Angehörigen in dem Prozess der Suchtbekämpfung?

Sie sind extrem wichtig, denn die Angehörigen können sehr stützend und hilfreich sein. Sie können aber durch ihr Verhalten auch dazu beitragen, dass das Ganze, was wir mühsam aufgebaut haben, wieder einstürzt, indem sie z.B. jemandem alles abnimmt. Das ist dann die sogenannte Co- Abhängigkeit. Dann gibt es für den Suchtkranken überhaupt keinen Grund, sich zu ändern. Er bekommt ja die „Rund-um-Sorglos- Versorgung“ von seinen Angehörigen. Das kann genauso schlimm sein, wie eine ständige Vorwurfs- und Kontrollhaltung, bei der immer betont wird: „Das wird sowieso nix mit dir.“ Die Angehörigen haben einen großen Einfluss auf den Erfolg der Behandlung.


Das Interview führte Stephanie Ilmer
Foto: Helga Duwendag-Strecker